Kreis, Georg (Hrsg.): Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918. Zürich 2014 : Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag, ISBN 978-3-03823-844-7 160 S.

Rossfeld, Roman; Thomas, Buomberger; Patrick, Kury (Hrsg.): 14 / 18: Die Schweiz und der Grosse Krieg. . Baden 2014 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3-03919-325-7 408 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniel Marc Segesser, Historisches Institut, Universität Bern

Lange Zeit war die Schweiz mit Blick auf die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg ein Sonderfall. Seit dem Beginn der 1930er-Jahre wurden nur mehr einzelne Themenbereiche wie der Landesstreik oder der Wirtschaftskrieg zum Gegenstand historischer Betrachtung. Eine allgemeine und übergreifende Auseinandersetzung mit dem in vielen anderen Ländern einen wichtigen Platz einnehmenden Grossen Krieg von 1914 – 1918 fehlte in der Schweiz bisher fast vollständig. Auch wenn es heute noch zu früh ist für eine abschliessende Bilanz des Erinnerungsjahres 2014, so kann doch festgehalten werden, dass die Schweiz in diesem Jahr definitiv Anschluss an die bestehende Literatur und Forschung im Ausland gefunden hat. Eine zentrale Rolle spielen dabei die beiden hier zu besprechenden Bücher von Georg Kreis sowie von Roman Rossfeld, Thomas Buomberger und Patrick Kury. Neben einer Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte vom Dezember 2013, dem den bezeichnenden Titel tragenden Werk Der vergessene Krieg von Konrad J. Kuhn und Beatrice Ziegler sowie zwei Studien zu den Kantonen Basel und Solothurn von Robert Labhardt und Urban Fink sind es vor allem diese Studien, die ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung der Schweiz und ihrer Kantone mit der Zeit des Ersten Weltkrieges aufgeschlagen haben.

Als erster Schweizer Historiker seit Jakob Ruchti in den Jahren 1928 – 1930 legte der für sein vielfältiges Werk bekannte Georg Kreis zu Beginn des Jahres 2014 erstmals wieder eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg vor. Der Autor leitet dabei sein Interesse an diesem Konflikt vom Zweiten Weltkrieg her, was in einigen Teilen seine Ausführungen allerdings etwas zu sehr auf eine vergleichende Ebene lenkt. Er zeigt, wie das Land sich einerseits aus der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts heraushalten konnte, andererseits aber auch stark von den Auswirkungen der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und militärischen Auseinandersetzungen betroffen war, die ab 1914 den gesamten Globus ergriffen. Kreis betont, dass es ihm angesichts der in vielen Bereichen fehlenden Detailstudien nicht möglich gewesen sei, alle Aspekte systematisch zu untersuchen, dass aber schon der Hinweis auf das Bestehen eines Themenbereichs über den Stand der bisherigen Erkenntnis hinausweise. Dennoch erstaunt es ein wenig, dass er sich bei der Wahl der Leitquellen für seine Studie an Ruchti orientiert. Wie dieser nutzt er nämlich primär die Neutralitätsberichte des Bundesrates und das Politische Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Anders als Ruchti ergänzt Kreis allerdings diese Quellen intensiv durch vorhandenes Bildmaterial, welches er im Nebelspalter, in der Schweizer Illustrierten sowie in den gut erschlossenen Bildbeständen der Agentur Keystone / Photopress, der Fotostiftung Schweiz in Winterthur und zur Armee im Schweizerischen Bundesarchiv gefunden hat.

Ziel von Kreis ist es, eine Gesamtsicht zu vermitteln, die sich durchaus kritisch mit dem als Teil des Titels gewählten Bild der «Insel der unsicheren Geborgenheit» auseinandersetzt. Dafür beschäftigt er sich als Erstes mit der Zeit vor 1914 und betont vor allem die mangelnde Vorbereitung des Landes auf einen durchaus erwarteten grossen Krieg. Kreis greift dabei auf eine interessante Debatte im Nationalrat vom Dezember 1912 zurück, in welcher sich zeigte, dass der Bundesrat aus finanziellen Gründen nicht bereit war, die Getreidevorsorge auszubauen. Daure ein Krieg länger als zwei Monate, werde das Land ohnehin gezwungen sein, sich der einen oder anderen Seite anzuschliessen. Die schlechte Vorbereitung lag aber auch, so macht der Autor deutlich, in einer grundlegenden Abneigung einer Mehrheit der schweizerischen Politiker gegen eine Übertragung zusätzlicher Aufgaben an den Staat begründet. Wie andere Länder wurde die Schweiz im Juli / August 1914 vom Kriegsbeginn überrascht und musste als Erstes mit dem Durchzug einer grossen Zahl ausländischer Arbeiter, einem Einbruch im Tourismus und der militärischen Mobilmachung fertigwerden. Besonders betroffen waren dabei die Grenzregionen und die Tourismusgebiete. Letztere versuchten in der Folge, den Inlandtourismus zu fördern, nutzten dann allerdings im weiteren Verlauf des Krieges auch die Möglichkeiten, die ihnen durch die Aufnahme von kranken und verwundeten Kriegsgefangenen aus den kriegführenden Staaten eröffnet wurden. Weitere Themen des Buches sind die Zentralisierungsbemühungen der Bundesbehörden, die Neutralitätspolitik, die Vermittlungsversuche der Schweiz und die guten Dienste, die wirtschaftlichen Herausforderungen, die militärische Landesverteidigung, der Alltag der Menschen, die inneren Auseinandersetzungen, die humanitären Bemühungen, die Fremdenfeindlichkeit sowie die Rolle der Schweiz bei Kriegsende. Während die Ausführungen dort, wo sich der Autor – wie beispielsweise bei den wirtschaftlichen Herausforderungen – auf neuere Studien zu stützen vermag, überzeugen, beschränkt sich das Buch an anderen Stellen – so beispielsweise mit Blick auf die guten Dienste und die Übernahme von Schutzmachtaufgaben – teilweise auf eine blosse Paraphrasierung entsprechender Passagen aus dem Politischen Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Das kann beispielsweise angesichts des Durcheinanders von Städten und Ländern die Frage wecken, welches der weltweit doch etlichen Queenstown wohl gemeint sein könnte (S. 72). Bedauerlich ist auch, dass Kreis Vorkommnisse wie die Oberstenaffäre, die Hoffmann-Grimm-Affäre oder Vermittlungsversuche nur aus einer engen schweizerischen Perspektive betrachtet. Es fehlt der allgemeine Kontext der Schweiz als internationaler Nachrichten- und Propagandadrehscheibe oder eine Einbettung in ähnlich gelagerte Friedensvermittlungsversuche anderer Staaten. Auf der Grundlage der vorhandenen Literatur wäre solches durchaus möglich gewesen. Ebenso bedauerlich ist die Tatsache, dass die Spannungsebene zwischen Bund und Kantonen nur im Rahmen allgemeiner Ausführungen zum Vollmachtenregime kurz aufgegriffen wird, ohne dass aber die in diesem Bereich bestehenden Defizite benannt werden. Hier hätte das Buch von Kreis von den seither erschienenen Studien von Labhart und Fink profitieren können. Gerade auch mit Blick auf den Kanton Bern gibt es zudem sicherlich mehr zu sagen, als dass General Wille sich im Verlauf des Landesstreiks genötigt sah, «die Berner Bauern von einem Marsch nach Bern abzuhalten; […].» (S. 221) Zum Schluss betont Kreis, dass der Erste Weltkrieg in der Schweiz bestehende Angst- und Wunschvorstellungen mit Blick auf ein sich selbst genügendes und geschütztes, gleichzeitig aber auch erheblich verflochtenes und abhängiges Land bestärkt habe. Der Autor bestätigt damit also mit Blick auf den Ersten Weltkrieg in seiner trotz der genannten Schwächen als Startpunkt wertvollen Studie auch Aussagen, die jüngst André Holenstein in seinem Buch über Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte allgemein herausgearbeitet hat.

Beim zweiten an dieser Stelle besprochenen Werk handelt es sich um einen Band, der im Zusammenhang mit der vom privaten Verein Die Schweiz im Ersten Weltkrieg konzipierten Ausstellung zur Geschichte unseres Landes in den Jahren 1914 – 1918 herausgegeben wurde. Leider wird diese Ausstellung aus nicht verständlichen Gründen in Bern nicht zu sehen sein, aber gerade deshalb lohnt es sich, das Buch in die Hand
zu nehmen und die Ausstellung ausserhalb von Bern zu besuchen. Roman Rossfeld, Thomas Buomberger und Patrick Kury verfolgen als Herausgeber dieser Studie einen anderen Weg als Georg Kreis. Sie wollen nicht einen Überblick bieten, sondern widmen sich vielmehr verschiedenen, weit weniger bekannten Aspekten der Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg. In einer ausserordentlich überzeugenden Einführung zeigt Jakob Tanner, wie sehr die Schweiz während des Ersten Weltkrieges mit den kriegführenden Mächten verflochten war. Die folgenden Beiträge beschäftigen sich dann mit Aspekten von Mobilisierung, Grenzbesetzung und nationaler Kohäsion, von Landesversorgung, Kriegswirtschaft und Wirtschaftskrieg, von Neutralität, humanitärer Diplomatie und Überfremdungsangst sowie von wachsender Not, Landesstreik und Erinnerungskultur. Sie überzeugen alle durch eine sehr stringente Argumentation und eine in den meisten Fällen gelungene Verknüpfung von Text, Bild sowie separaten Kästen zu Einzelaspekten. Das über ausgezeichnetes Bildmaterial verfügende Buch bildet damit eine sehr wichtige Ergänzung zu demjenigen von Kreis. Es präsentiert zudem im Gegensatz zu Letzterem auch neue Forschungsergebnisse. Das gilt besonders für die Beiträge von Oliver Schneider zum Vollmachtenregime, von Alexandre Elsig zur ausländischen Propaganda als Bewährungsprobe für die nationale Kohäsion, von Serge Paquier zur Kohlekrise als Chance für den Ausbau der Wasserwirtschaft, von Roman Rossfeld zu schweizerischen Kriegsmaterialexporten oder von Carlo Moos zum Umgang der Schweiz mit den Spielarten der Neutralität. Einen hübschen Kontrapunkt zu diesen den grösseren Linien verpflichteten Beiträgen bilden der exemplarisch gestaltete Beitrag von Rudolf Jaun zur Zuspitzung der Disziplinarproblematik im Militär sowie die auf den Kriegsalltag und das Kriegserleben der Familie von Beatrice und Paul Ganz-Kern fokussierenden Ausführungen von Heidi Witzig. Insgesamt ist den Herausgebern wie den Autorinnen und Autoren damit ein ausserordentlich guter Wurf gelungen, der gerade dort, wo das Buch von Georg Kreis einige Schwächen aufweist, neue Antworten zu geben vermag. Der einzige Mangel besteht wohl darin, dass auch hier fast ausschliesslich auf die nationale Ebene fokussiert wird und den Entwicklungen in den Kantonen und Regionen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Beide hier besprochenen Bücher können daher auch als Aufforderung verstanden werden, gerade in diesem Bereich weitere Forschungsarbeiten an die Hand zu nehmen.

Zitierweise:
Daniel Marc Segesser: Rezension zu: Kreis, Georg: Insel der unsicheren Geborgenheit: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914 – 1918. Zürich: NZZ Libro 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 73 -76.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 73 -76.

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